Gottfried Böhm gilt als Urgestein in der Architekturlandschaft Deutschlands. Unter anderem ist er neben Frei Otto der einzige deutsche Pritzkerpreis-Träger (Nobelpreis für Architektur) und vor allem der Einzige, der noch lebt. Am 23.01.2020 wurde er 100 Jahre alt. Darum ist 2020 das Böhmjahr – Böhm100 – und das ganze Jahr hindurch wird sein Werk in verschiedenen Veranstaltungen geehrt.
Mariendom Gottfried Böhm Neviges

Mariendom Neviges – Eingangsseite

Grund genug für uns, eine Fahrradtour zu seinem bedeutendsten Werk zu machen, passender Weise ist es eine Pilgerkirche, dem Mariendom in Neviges. Wir pilgern per Fahrrad von Düsseldorf rund 70km und ca. 800 Höhenmeter (ächzt) durch das Bergische Land hin und zurück. Es hat sich mehr als gelohnt, um das vorweg zu nehmen.

Mariendom Gottfried Böhm Neviges

Routenbeschreibung

Für den ambitionierten Radfahrer hier unsere Route, bevor wir zurück zu Gottfried Böhm kommen: Düsseldorf (A) – Grafenberg – am Pillebach entlang – Knittkuhl ( Rastmöglichkeit Gut Knittkuhl (1) ) – den Hasselbach queren – den Schwarzbach queren – Niederschwarzbach – Rohdenhausen – Kalksteinbruch Silberberg – Kleine Schweiz ( Einkehrmöglichkeit (2) ) – Wimmersberg – Einstiegspunkt Panoramaradweg Niederbergbahn ( kommt von Essen ) – Neviges ( Mariendom (3) und Hardenberger Schloß (4) ) – zurück zum Einstiegspunkt Panoramaradweg Niederbergbahn – Aparter Mühle (5) – Tillmannsdorf – Schöller – Gruiten ( sehr schöne Innenstadt, diverse Einkehrmöglichkeiten ( nahe 7) ) – kurzes Stück an der Düssel entlang – Aussichtspunkt Wiesentgehege (8) – Hochdahl – südlich vorbei an Erkrath über den Römerweg – Vennhausen – Gerresheim – Düsseldorf (B).

Düsseldorf – Neviges – Routenkarte

Wegqualität

Von den ca. 70km sind nur etwa 25km Fahrradwege, der Rest sind Straßen und Landwirtschaftswege. Auf ca. 13km ist loser Untergrund, der aber gut befahrbar ist. Jedoch auf geschätzt 2km ist die Wegqualität zumindest für schmale Bereifung nur noch grenzwertig machbar.

Topografie

Durchgehender Wechsel moderater bis knackiger Steigungen und Gefälle ( 5% – 15% ), jedoch nie allzu lang anhaltend. An zwei bis drei Stellen muß kurz geschoben werden. Wem die Schenkel zum Schluss zu sehr brennen, der kann die Abfahrt nach Gruiten (Tallage) auslassen. Wer schon vor Neviges am Ende seiner Kräfte ist, könnte die Abfahrt nach Neviges auslassen und somit viele Höhenmeter sparen, was jedoch tragisch wäre, denn der Mariendom ist die Attraktion der Tour.

Mariendom Neviges – Glockenaufbau

Mariendom Gottfried Böhm Neviges

Gottfried Böhm

Nun zurück zu Gottfried Böhm. Studiert hat dieser Architektur und Bildhauerei. Das ist auch der Grund seiner „Auffassung von der Architektur als Plastik“, also der Idee Architektur zu erarbeiten, wie ein Bildhauer seine Skulpturen. Er hat die Marienkirche bildhauerisch in den Kontext der umgebenden Berge gesetzt, so sagt er selbst. Wenn man es drauf anlegt, könnte man in der Kirche auch einen Berg oder Felsen erkennen, aber so einfach ist es nicht gedacht. Vielmehr sollen die unregelmäßigen Dachflächen, Spitzen und Giebelmotive mit der umliegenden Topographie und auch der Stadt in den Dialog treten.

Mariendom Neviges – Dachaufbauten

Theologen sehen noch mehr Bilder in dem eigenwilligen Betonfaltwerkbau. Die verschiedenen, spitzen Dachaufbauten erinnere von weitem an Zelte. Solche Zelte, die Pilger auf ihrem schwerlichen Weg zum Wallfahrtsort benutzten. Gleichzeitig wird die Kirche über einen aufwärts durchgestuften Platz erreich, liegt also für den herannahenden Pilger erhaben, sinnbildlich wie das christliche Ziel der Wallfahrt: „Die Stadt Gottes auf dem Berg“. Hier wird der Weg der Pilgerschaft und das Wallfahrtsziel selbst durch eine einzige Skulptur dargestellt, und belegt so die bekannte Weisheit, dass der Weg das Ziel ist.

durchgestufter Platzaufgang mit Nebengebäuden

Mariendom Gottfried Böhm Neviges

Hardenberger Gnadenbild

Klären wir aber nun einmal die Frage, warum überhaupt nach Neviges gepilgert wurde und wird. Wir tun es wegen Böhm100 und um ein bißchen Schmalz in die Oberschenkel zu bekommen. Warum tun es all die Anderen?

Hardenberger Gnadenbild

Eine lange Geschichte möglichst kurz: Nach Neviges wird schon 300 Jahre gepilgert, um dort das sogenannte Hardenberger „Gnadenbild der unbefleckten Empfängnis“ zu betrachten. Dieses ist ein unscheinbares Bildchen der Maria Immaculata, herausgerissen aus einem Gebetbuch, vor dem einst ein Pater aus Dorsten im Jahre 1680 angeblich täglich gebetet haben soll. Eines Tages aber soll das Bildchen zu ihm gesprochen haben, er möge es nach Hardenberg versenden, dort würde es eine wundersame Krankheitsheilung vollbringen. Er schickte es daraufhin zu den Franziskanern in Hardenberg-Neviges, die dort zur dieser Zeit aufsehenerregenderweise gegenreformatorisch aktiv waren und just ein Kloster bauten. Vom Versand der unbefleckten Maria und der avisierten Wunderheilung hörte wiederum ein schwerkranker Fürstbischof aus Paderborn, wurde allein dadurch spontan gesund, pilgerte sodann zum Dank nach Neviges und spendete dankenswerterweise kräftig für die Klostervollendung der Franziskaner. Seitdem wird zu tausenden pro Jahr zu dem kleinen Marienbildchen gepilgert, welches heute als Kupferstich in der Mariensäule im Dom zu Neviges zu betrachten ist, womöglich um auch noch ein bißchen Nachhall dieser Wunderheilung abzubekommen. Dabei hatte Maria Immaculata doch nur eine einzige Wunderheilung versprochen, und die ist schon seit 300 Jahren getan.

Mariendom Neviges – Vorplatz mit Platanendach

Es folgten Jahrhunderte der Wallfahrt nach Neviges mit stetig steigenden Pilgerzahlen. Zählungen von 1740 mit 20.000 Gläubigen im Jahr bis in die 50er Jahre den 20.Jhd mit stattlichen 300.000 pro Jahr machen den Anstieg deutlich. An manchen Tagen sollen es bis zu 10.000 Pilger gewesen sein. Die Kapaztität mehrerer Kirchenbauten am Standort, die mehrfach erweitert oder durch größere Neubauten ersetzt wurden, wurde trotz aller Bemühungen immer wieder gesprengt. Darum kam es zum Bau einer neuen, großen Wallfahrtskirche in den 60er Jahren des vergangenen Jahrhunderts.

Mariendom Neviges – Betonfaltwerk

Maria, Königin des Friedens

Die Wallfahrtskirche „Maria, Königin des Friedens“, kurz Mariendom, wurde in den Jahren 1966-68 erbaut. Der Sakralbau gilt als eines der bedeutendsten Beispiele neuzeitlicher Kirchenarchitektur. Das Haus fasst über 6000 Menschen und ist hinter dem Kölner Dom die zweitgrößte Kirche der Erzdiözese. Ein fugenloses Betonfaltwerk überspannt 2.700 m² ohne Mittelstützen. Zwei Annexbauten sind angefügt, eine Sakraments- und eine Marienkapelle. Durch große Buntglasfenster sind diese farbig illuminiert und heben sich in ihrer Helligkeit deutlich vom Hauptraum ab. Eine seitliche Treppe führt zur unterirdischen Krypta. Zahlreiche Emporenebenen gliedern den Raum vertikal an der Eingangsseite.

Mariendom Neviges – Betonfaltwerk

Die technische Leistung der Betonkonstruktion ist beachtlich und war zum Zeitpunkt des Baus einzigartig. Die Vollbetonkonstruktion des Betonfalten-Daches hatte jedoch keine Isolations- oder Dichtungsschichten. Die Dachlandschaft musste wegen Undichtigkeiten daher nachträglich mit einer Kunststoffschicht überzogen werden. Das ist ein Wermutstropfen, denn der sandgestrahlte Beton hat selbstredend eine erheblich hochwertigere optische Qualität als die mit hellem Kunststoff überzogenen Dachflächen.

Mariendom Neviges – Betonfaltwerk

Zwielichtige Faltwerkhülle

Betritt man dir Kirche, braucht man eine Weile, bis sich die Augen an den Raum gewöhnt haben. Ungewöhnlich dunkel ist es darin, und die mystische Düsterkeit ist respekteinflößend. Nur wenige kleine Fenster lassen spärlich Licht unter das Betonfaltwerk fließen, nur schemenhaft kann man die Kanten und Flächen eines riesigen Doms über dem Einheitsraum erkennen. Das Erlebnis erinnert daher an Le Corbusiers Wallfahrtskapelle Notre-Dame-du-Haut in Ronchamp, Frankreich. Auch hier ist der Innenraum bewusst dunkel gehalten und nur durch kleine Perforationen der ansonsten weitgehend geschlossenen Hülle dring wenig Licht ins Innere. Auch Ronchamp ist eine Skulptur, und hat einen unregelmäßigen, stützenfreien Einheitsraum mit teilsepariertem Annex, ist expressiv und aus Beton.

Mariendom Neviges – Betonfaltwerk

Ob wegen solcher Gemeinsamkeiten manche Bauhistoriker diese beiden Sakralbauten in einer Stilrichtung zusammenfassen zu versuchen kann hier nur vermutet werden. Sie ordnen Ronchamp an den Anfang des sogenannten Neo-Expressionismus im Sakralbau und Neviges an den Höhepunkt. Ob eine solche Etikettierung nötig oder treffsicher ist, darf zumindest angezweifelt werden. Le Corbusiers und Böhms Entwürfe weisen jedenfalls soviel Individualität auf – sie folgen eigenen, starken Ideen und nicht einer Stilvorgabe – , dass auf die Einordnung auch verzichtet werden könnte.

Rosenfenster in der Sakramentskapelle

Nach ein paar Minuten haben sich die Augen an die Dunkelheit gewöhnt und man nimmt die Komplexität des Innenraums und des Tragwerks war. Obwohl die komplette Innenhülle selbst grau in grau ist, alle Flächen bestehen aus Sichtbeton, fließen von den großen Buntglasfenstern in den Apsiden und am seitlichen Kryptenabgang verschiedenfarbige Lichter in den Einheitsraum. Der Mariendom ist komplex und nicht auf den ersten Blick zu verstehen. Die verschiedenen Lichtqualitäten laden zum Entdecken ein.

Rosenfenster in der Sakramentskapelle
Altar – im Hintergrund: Emporen
Mariendom Neviges – Nebengebäude

No responses yet

Schreibe einen Kommentar